Ehrlichkeit und Echtheit sind konstante Währungen in einer Zeit, in der nichts Bestand hat und wenig noch was zählt. Darauf baut Tegernseer Bier. Das "Hell" aus dem Kaff am Wasser schreibt eine nicht zu fassende Erfolgsgeschichte: Der Saft wird zugeteilt, nicht verkauft, bis nach Kreuzberg und ins Schanzenviertel. Wer es ausschenken darf, kriegt die hippen Gäste, alle anderen müssen bei Krombacher bleiben. Im Taunus gibt es Tegernseer für den Daheim-Trinker nur beim Schluckspecht, dem Getränkeshop für Profis, ansonsten muss man lange suchen. Es kommt vor, dass selbst die Vertragshändler nicht genau sagen können, wann der edle Trunk zu 17,99 Euro ohne Pfand die Schachtel wieder reinkommt. "Wir bewerben uns um eine Ration, und dann heißt es abwarten", erzählt ein Insider. Durchgehend verlässlich beliefert werden nur die Märkte im Umfeld der Brauerei.
Die Ursachen des Hypes ums Tegernseer liegen im Branding und in der Kommunikation. Allein der Name Tegernseer und die komplett undesignte Flasche erzählen vom idyllischen Bayern und einer kleinen Brauerei. Heile-Welt-Bilder, die ein Krombacher für viele Millionen in Köpfe hämmern muss. Hier greift der Merkel-Effekt: Die Kanzlerin könnte mehr Zeit und Geld in ihre zeitgemäßere Erscheinung stecken, aber gerade die Beständigkeit, mit der sie an optisch gleichbleibenden Symbolen festhält, schafft die Grundlage für das Vertrauen in sie. Wer so wenig Wert auf Äußerlichkeiten und Status legt, ist unbestechlich, ist die Message, die beim Volk gut ankommt. So auch beim Tegernseer: alles fürs Bier, nichts für Design und Werbung. Bis die Sache mit dem Ausbau der Braukapazitäten aufkam: "Es gärt im Tegernseer Tal", schrieb die Presse und schilderte das Aufbegehren des Landvolks gegen das eigene Kultbier. Hatte man sich jahrelang kollektiv am kometenhaften Aufstieg des Underdogs erfreut, spaltete der Expansionsdrang des Herzoglichen Braustüberls die Gemüter. Die neue Braustätte ist für viele ein "ekliges Betonbauwerk", sie steht mitten im Naturschutzgebiet. Sie sprechen von "Wachstum um jeden Preis", "CSU-Filz" und "Profitgier". Vom Markenversprechen – "friedlich, bayerisch, zünftig und gemütlich" – ist da nicht viel übrig. Stattdessen hagelt es Petitionen aufgebrachter Bürger, deutschlandweit süffisant ausgeweidet von den Medien. Bisher kommt das Idyll direkt aus der Flasche, jetzt gibt es Saures von Traditionalisten und Umweltschützern. Diese Unruhe stört nicht nur die Ausbaupläne, sondern sorgt auch für bitteren Beigeschmack beim Kunden: Was nicht mehr echt ist, ist halt falsch. Das ruft Nachahmer auf den Plan: Das Chiemseer (Paulaner reitet damit auf der Trendwelle) sieht genauso undesignt aus und kriegt jetzt richtig Oberwasser. Und das Ammerseer (da sind die Etiketten allerdings schon ziemlich durchgestylt) ist auch schon aus den Startlöchern raus.
Im Spannungsfeld zwischen Herkunftsbezug und Wachstum liegt die zentrale Herausforderung für authentische Marken. Die große Kunst besteht darin, die emotionalen Ressourcen realistisch einzuschätzen und nicht zu überfordern. Zu schnelles Wachstum macht die angestammte Kundenbeziehung, über Jahre aufgebaut, rasend schnell kaputt; auf lange Zeit unwiederbringlich.